Gediegen speisen

Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie ein gutbürgerliches Esszimmer aus dem Jahr 1924 aussieht? Wahrscheinlich eher nicht, oder? Ich muss gestehen, ich hatte bis zum Einzug dieses Mitbewohners nicht den blassesten Schimmer, auf welchem Mobiliar man vor knapp 100 Jahren zu Tisch saß.
Eine klangvolle Bezeichnung wie „Teodora“ sucht man hierbei allerdings vergebens. Einzig der Hinweis, dass es sich um eine Speisezimmereinrichtung handelt, wird in der „Deutschen Kunst und Dekoration“ aus dem Jahr 1924 gegeben. Anhand dieser Publikation lässt sich der damalige Zeitgeschmack gut ablesen, da sich dort die Trends des zeitgenössischen (Möbel-)Designs widerspiegeln. 1)

Der Stuhl wurde von dem Architekten Karl Bertsch (1873 - 1933) entworfen und von den „Deutschen Werkstätten Hellerau-Dresden und München“ produziert. Bertsch war Geschäftsführer der Münchner Zweigstelle dieses Werkstattverbundes. Dessen anderer Standort befand sich zunächst mitten im Zentrum Dresdens, wurde alsbald an den Stadtrand, nach Hellerau verlegt. Grund hierfür war einerseits eine Vergrößerung der Produktionsstätten, andererseits sollte Arbeiten und Leben enger miteinander verknüpfen werden. So entstand dort 1909 Deutschlands erste Gartenstadt, die unter Anderem von Richard Riemerschmid geplant wurde.
Die sozialreformerische Ideologie der Gartenstadtbewegung sah vor, dass den Arbeitern genügend Mietwohnungen in der Nähe der Werkgebäude zur Verfügung gestellt wurden. Ergänzt werden sollte dieses Angebot durch eine Schule mit angeschlossenem Wohnheim, Arztpraxen sowie einen Marktplatz, ein Badehaus und ein Festspielhaus. Dem Firmengründer Karl Schmidt war sehr daran gelegen, dass sich seine Mitarbeiter weiterbildeten und aus dieser Lebensform Motivation für ihre Arbeit zogen.

Ich könnte Ihnen noch viel mehr über diese spannende Bewegung, die ihren Ursprung in Großbritannien hatte, berichten, doch möchte ich mich jetzt abschließend wieder meinem hölzernen WG-Genossen widmen.

Bekleidet ist dieser mit dem noch originalen Rosshaarbezug, dessen Gestell wurde aus Ahornholz gefertigt, das Rückenblatt besteht hingegen aus dem äußerst seltenen und sehr teuren Riegelahorn. Ebenso als Serienprodukt wie meinereiner konzipiert, sprach er allerdings eine völlig andere Kundschaft an. Diese wurde im Firmenkatalog folgendermaßen beschrieben:
„Die […] Möbel sind nicht für diejenigen, welche Möbel wie eine beliebige Magazinware kaufen und durch Anpreisungen wie „stilrein“, „echt Louis Seize“ oder „Jugendstil“, „Sezessionsstil“ und dergleichen mehr den Blick für das Echte verloren haben. Sie sind für diejenigen gezeichnet und ausgeführt, welche die Qualität der Arbeit, die Einfachheit und Gediegenheit schätzen. Wir wollen in unserem handgearbeiteten Möbel nicht das Neueste, sondern immer nur das Beste zu leisten suchen. Wer lediglich und allein auf Billigkeit sieht, wird kaum etwas finden. Wer auf Qualität achten will, aber nur über beschränkte Mittel verfügt, der findet was er sucht in dem Preisbuch über das Dresdner Hausgerät.“2)

Sie sehen, unterschiedlicher könnte der hinter unserem Entwurf steckende Gedanke nicht sein. Aber genau das macht ja auch den Reiz meiner von Vielfalt geprägten WG aus!

Weitere Geschichten über meine Mitbewohner finden sie hier.

Herzlichst, Teodora

1. Stuhl der SAMMLUNG WERNER LÖFFLER 

Falls Sie nun mehr über Karl Bertsch und die Deutschen Werkstätten erfahren möchten, habe ich hier ein paar Anregungen für Sie:

Weblinks:

Literatur:

  • Deutsche Werkstätten G.M.B.H. Hellerau bei Dresden und München: Handgearbeitete Möbel. Verlag der deutschen Werkstätten, Leipzig. II. Auflage. 1910.
  • Arnold, Klaus-Peter: Vom Sofakissen zum Städtebau - die Geschichte der Deutschen Werkstätten und der Gartenstadt Hellerau. Verlag der Kunst, Dresden. 1993.

1) Bildnachweis: CC-BY-SA 3.0, Universitätsbibliothek Heidelberg, Deutsche Kunst und Dekoration Band 54, 1924, S. 345.
Im Jahr 1897 gründete Alexander Koch die Zeitschrift „Deutsche Kunst und Dekoration: illustrierte Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst und künstlerisches Frauen-Arbeiten“, die sich mit der dekorativen Kunst des Jugendstils befasst.

2) Deutsche Werkstätten G.M.B.H. Hellerau bei Dresden und München. Handgearbeitete Möbel. Verlag der deutschen Werkstätten, Leipzig. II. Auflage. 1910. S. V.

 

Simone Krach-Kestin M.A.

Kuratorin der SAMMLUNG WERNER LÖFFLER

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